Hallo liebe Kunstfreunde,
lassen Sie mich heute mit einer Binsenweisheit beginnen: Geschichte wird von Menschen gemacht. Das gilt auch für alle Systeme, die sie sich geben, seien es die ökonomischen, politischen oder kulturellen. Auch die Kunstgeschichte wird von Menschen gemacht, von den Künstlerinnen und Künstlern und ihren Werken. Nicht von Professoren, Kritikern, Seminaristen oder den Händlern des Kunstmarktes, auch wenn diese sich wesentlichen Einfluss zuschreiben. Entscheidend sind die Werke und ihre Schöpfer. In den vorangegangenen Sendungen, zum Beispiel über den Impressionismus, den Fauvismus, den Expressionismus oder den Kubismus, habe ich oft zu erläutern versucht, was die jeweilige Kunstrichtung bedeutet, woraus sie sich entwickelte und warum und wie diese Entwicklung existierte. Es handelte sich also um eine Zusammenfassung von Ähnlichkeiten in der Arbeit ganz unterschiedlicher Individuen. Manche Künstler waren für eine bestimmte Kunstrichtung bedeutender als andere, aber diese Aussage birgt auch eine Ungerechtigkeit; sie stellt die Richtung, also die gleichen Merkmale von vielen in einer bestimmten Zeit, über den einzelnen, über das Individuum, über den einzelnen Künstler. Vielleicht ist aber gerade das Abweichende, das ganz und gar Individuelle am interessantesten, wenn wir Kunst betrachten oder uns mit ihr auseinandersetzen…
Es gibt zahllose Künstler, die eigene Wege gehen, auch neue, andere, und die sich trotzdem nicht einer Kunstrichtung zuordnen lassen; deren Weg so originell ist, dass keine Weisung für viele daraus entstehen kann. Die nicht als Gründerväter dieses oder jenes Stils gelten können. - Nach den vielen Ismen der letzten Sendungen wird es Zeit, einige jener Abweichler, jener einsamen Genies vorzustellen. Wenden wir uns diesen besonderen Menschen zu, um zu vertiefen, dass Kunst von Menschen gemacht wird, von besonderen Menschen, und nicht an sich systemisch ist, wie die Kunsthistoriker oft unterstellen…
Jeder von uns hat bestimmte Lieblingsmaler oder Lieblingsbilder, die er schätzt, und er hat diese nicht deshalb, weil sie von der Kritik gelobt werden oder auf dem Kunstmarkt hohe Preise erzielen. Er schätzt sie, weil sie etwas im Inneren anrühren, eine Emotion hervorrufen, uns bereichern jenseits der sperrigen Ratio und des Alltags. Einer meiner Lieblingsmaler ist der Italiener Amedeo Modigliani. Er wurde am 12. Juli 1884 in Livorno geboren. Er war das jüngste von vier Kindern des Kaufmanns und Maklers Flaminio Modigliani und dessen Ehefrau Eugenia. Seine Mutter entstammt einer jüdisch- spanischen Familie aus Marseille; die Familie des Vaters stammte aus dem Dorf Modigliani im Süden von Rom. Sein Vater war ständig auf Reisen, und er hatte anscheinend nur wenig Einfluss auf das Leben seines Sohnes. Die Beziehung zur Mutter war intensiver, sie konnte seine künstlerischen Neigungen verstehen und fördern, wie aus ihrem Tagebuch ersichtlich wird. Es gibt Seiten voller Zärtlichkeit für den Sohn, aber auch eine fast erstickende Fürsorge, die von den weiblichen Mitgliedern der Familie, der Mutter und den Tanten, geteilt wurde. Vielleicht lag es daran, dass Amedeo ein kränkliches Kind war. Mit elf Jahren erkrankt er an einer schweren Brustfellentzündung, von der er sich nur langsam erholt. Mit 14 Jahren, nach einem Nervenfieber, treten Lungenbeschwerden auf, die zum Ausbruch einer Lungentuberkulose führen. Die Krankheit wird ihn sein ganzes Leben lang quälen und seinen frühzeitigen Tod verursachen. Die Mutter unternimmt mit ihm eine Erholungsreise nach Neapel, Capri, Rom und Florenz. Schon vor drei Jahren hat er den Schulunterricht aufgegeben, aber schon als 14 jähriger begonnen, Malerei zu studieren. Oft besuchte er das Atelier des berühmten Malers Micheli in Livorno, und diese Reise bot ihm Gelegenheit, zusammen mit seiner Mutter Kirchen, Paläste und Museen zu besuchen. Vor allem die Skulpturen des Bildhauers Tino di Camaino hatte es ihm angetan. Aus Rom schrieb er an einen Freund: "ich schreibe dir, um mein Herz zu erleichtern und mir selbst Mut zu machen. In mir sind starke Energien am Werk, die kurz vor dem Ausbruch stehen. Dabei wünschte ich so sehr, dass mein Leben einem ertragreichen Fluss gliche, der freudig über die Erde dahin fließt. Ich fühle in mir unendlich viele Möglichkeiten keimen, und ich habe das Bedürfnis, ein Werk zu schaffen." 1902 verlässt Modigliani Livorno. Er hält die Stadt für zu provinziell, um hier weiterzukommen. Er geht nach Florenz und besucht dort die Akademie für Aktmalerei, ein Jahr später wechselt er an die Akademie in Venedig.
1906 geht Modigliani nach Paris, wie so viele Künstler seiner Zeit. Diese Zeit in Paris und die Bilder, die hier entstanden, sollten später den Mythos Modigliani begründen... Am Montmartre, in der Rue Coulaincourt, mietete er sich ein Atelier. Es war dieselbe Straße, in der Toulouse-Lautrec wohnte. Nicht weit entfernt gab es das Bateau-Lavoir, jenes heruntergekommene Gebäude, in dem Pablo Picasso wohnte, und über das wir schon in der letzten Sendung sprachen. Es war der Treffpunkt der berühmtesten Künstler und Schriftsteller des Jahrhunderts, Treffpunkt der Avantgarde. Modigliani wechselte seine Ateliers übrigens häufig und schließlich zog er vom Montmartre zum Montparnasse. Er war ganz berauscht von der Pariser Atmosphäre, besonders von den Frauen, bei denen er mehr Erfolg hatte als in der Malerei. Er ist ein junger schöner Mann mit bräunlichem Teint, hat die Haltung eines Aristokraten, ist ein Bohemien, scheint den Drogen, dem Alkohol und den Leidenschaften zu verfallen; der Dichter Max Jacob spricht von ihm als Aristokraten in Lumpen; Picasso dagegen meinte, dass nur Modigliani in ganz Paris sich zu kleiden wisse und das sein Samtanzug Stil habe. Der Maler Gino Severini erinnert sich: “ Für Modi (wie Modigliani bei Freunden genannt wurde) war der Alkohol nur ein Mittel, kein Zweck an sich. Die Erregung, die er ihm verschaffte, diente dazu, immer tiefere Einblicke in die eigene Seele zu gewinnen. Das gehörte zu den Gepflogenheiten aller Künstler jener Epoche… Er trug auch stets ein wenig Haschisch in der Westentasche, aber er gebrauchte es nur selten, nämlich dann, wenn er der arabischen heiteren Gelassenheit der Droge bedurfte, wenn alles um ihn herum zusammenbrach und sogar sein Selbstvertrauen dahinschwand … Und schließlich, glauben denn die braven Bürger, dass man ein Kunstwerk aus der gleichen Bewusstseinslage heraus schaffen kann wie die Abrechnung im Kassenbuch? "
Lebe kurz und heftig: Insofern lässt sich Modigliani in eine Reihe stellen noch vor Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison, Kurt Cobain und vielen anderen. Das Thema Kunst und Drogen sollten wir vielleicht später einmal aufgreifen, liebe Kunstfreunde…
Im Herbst 1907 freundet sich Modigliani mit dem Arzt Paul Alexandre an, einem begeisterten Kunstliebhaber und Sammler, durch den er auch den Bildhauer Constantin Brancusi kennenlernt. Er beginnt wie dieser direkt in Stein zu arbeiten. Brancusi ist es auch, der ihn auf die afrikanischen Plastiken aufmerksam macht, deren Linienführung sich später in Modiglianis Bildern wiederfinden wird. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, wird Modigliani für untauglich erklärt und bleibt in Paris zurück. Es beginnt die intensivste Zeit seines Lebens, das sich innerhalb weniger Jahre verzehren wird. Er trifft Beatrice Hastings, eine englische Schriftstellerin, die zuvor als Kunstreiterin in einem südafrikanischen Zirkus tätig war. Sie wird für die nächsten zwei Jahre seine Lebensgefährtin und sein bevorzugtes Modell. Sie ist die erste Frau, die in seinem Liebesleben eine wichtige Rolle gespielt. Aber die Verbindung gestaltet sich dermaßen stürmisch und ist so explosiv, dass sie nicht lange Bestand hat. Sie endet wie in einem Trivialroman: mitten aus der schönsten Atmosphäre eines Festes heraus, dass ein befreundeter Maler veranstaltet, beginnen Amedeo und Beatrice einander zu beschimpfen, zu beleidigen und schließlich zu prügeln. Die Gäste stehen der Szene, die sich bis auf die Straße fortsetzt, hilflos und peinlich berührt gegenüber. Danach verlässt Beatrice Paris für immer.
Zwischen 1915 und 1916 lernt Modigliani den polnischen Dichter Leopold Zborowski kennen. Er bewundert Modigliani und bemüht sich aufopferungvoll, diesen aus seinem Elend zu reißen. Zborowski verkauft nicht nur die Bilder des Künstlers, sondern versorgt ihn auch mit Malmaterial, Nahrungsmitteln und Alkohol. Modigliani kann auf Dauer nur einen kleinen Kreis von Freunden auf Dauer an sich binden; er wirkt oft verschlossen und zeigt mitunter einen ironischen, oder genauer gesagt, einen sarkastischen Charakter. Es war nicht einfach, mit seinen Stimmungsschwankungen und Launen umzugehen. So schrieb Ilja Ehrenburg, ein später bekannter Schriftsteller und Exilrusse und einer der Freunde Modiglianis: “ Manchmal denke ich, dass Modigliani das Leben für einen riesengroßen, von sehr bösen Erwachsenen eingerichteten Kindergarten hielt." Und der Besitzer einer großen Kunstgalerie in Rom, Guiseppe Sprovieri, erzählte in einem Interview: "Modigliani kam auf zwei Tage nach Rom… da er an jenem Tag nicht arbeiten musste, war er nicht betrunken. Modigliani setzte sich nicht unter Drogen: er trank Wein und Absinth, befand sich jedoch in dem Stadium, in dem ein Glas Wein genügt, Trunkenheit hervorzurufen. Er hatte ein schwieriges Temperament… Amedeo Modigliani war schweigsam, verschlossen, fast wie in Trance… er konnte plötzlich von der größten Herzlichkeit zu gewaltsamer Erregung umschlagen." Andere Freunde und Zeitgenossen wie Maurice de Vlamink, der Modigliani sehr gut kannte, erinnerten sich daran, dass ihr Freund in jeder Situation aristokratische Würde zeigte, ob er nun auf der Suche nach einer Mahlzeit in den Straßen umherirrte oder gerade wieder einmal Geld besaß. "Modi war ein großer Künstler. Davon legt sein Werk ein überwältigendes Zeugnis ab. Seine Gemälde sind von großer Vornehmheit geprägt, man wird in ihnen nichts Gewöhnliches, Banales oder Grobes finden. " Ein anderer Freund, der Dichter Max Jacob, beschrieb Modigliani mit den Worten: "Er war unbeugsam und aufrichtig. Angesichts seiner offensichtlichen Sanftmut überraschte seine gelegentliche Gewalttätigkeit um so mehr. Trotz seines starrsinnigen und zornigen Temperaments war er sentimental. Er war einzig und allein Künstler und Poet und dachte an nichts anderes als an die Kunst.“ Das stimmt wahrscheinlich, denn trotz Tuberkulose, Rauschgift und Alkohol schuf er ein reiches fantastisches Werk.
1917 gelingt es dem Freund Leopold Zborowski, für Modigliani eine erste Einzelausstellung zu bekommen, in der Galerie Berthe Weill. Diese hatte im Jahre 1901 als erste Frau eine kleine Galerie gegründet und als eine der Ersten im Jahr 1902 Bilder von Pablo Picasso gezeigt, der damals noch unbekannt war. Zuvor hatte Modigliani nur 1908 und 1910 im Salon der Unabhängigen Bilder ausstellen können. Erst durch die Bekanntschaft mit dem Kunsthändler Paul Guillaume, die sein Dichterfreund Max Jacob eingefädelt hatte, waren Bilder von ihm bekannt geworden und der Kunsthändler kaufte etliche von ihnen.
Modiglianis Einzelausstellung wird ein großer Erfolg und sogar eine Sensation, als die Polizei anrückt, um ein Aktgemälde aus dem Fenster der Galerie zu entfernen. In diesem Jahr, 1917, entstanden die schönsten Akte und Bildnisse Modiglianis. Die Werke, die ihn später weltberühmt werden ließen. Ein Grund dafür war, dass er seine große Liebe in Gestalt der jungen Jeanne Hébuterne traf.
Sie ist 19 Jahre alt, sanft, schön und zurückhaltend. Die Studentin der Akademie Colarossi wird von Ihren Freunden „Noix de Coco“ genannt, auf deutsch Kokosnuss. Sie hat strahlend blaue Augen, einen wunderschönen Teint trägt ihr rötlich braunes Haar geflochten. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Das Mädchen verlässt die elterliche Wohnung um mit Modigliani zu leben. Im März 1918 ist Jeanne schwanger. Paris wird von der deutschen Armee beschossen. Modiglianis Gesundheitszustand ist durch seine Krankheit, Drogen und Alkohol zerrüttet und verschlechtert sich zusehends. Seine Freunde, vor allem das Ehepaar Zborowski und Jeanne bedrängen ihn, gemeinsam an die Cote d'Azur zu ziehen, um sich dort zu erholen. Zusammen mit Modiglianis Freund Soutine verließen sie Paris, als eine Invasion deutscher Truppen drohte. Anfangs wohnten Modigliani, Jeanne Hébuterne und seine Freunde in Cagnes-sur-Mer, später zogen sie nach Nizza. Dort brachte Jeanne am 29. November 1918 eine Tochter zur Welt. Amedeo Modigliani erkannte die Vaterschaft des Kindes an, das den Vornamen der Mutter erhielt.
Während seines Aufenthaltes in Nizza und der näheren Umgebung besuchte Modigliani Pierre-Auguste Renoir, der ein Anwesen über der Küste bewohnte. Ein in der Nachbarschaft wohnender Maler berichtete später, dass es zwischen dem Altmeister des Impressionismus und dem jungen Maler zu einem Streit über die Ratschläge Renoirs gekommen sei. - Wenn wir uns erinnern, wie sehr Modigliani bis zum Exzess für seine Kunst lebte, so verwundert es kaum, dass er sich selbst gut gemeinten Ratschlägen verweigerte und ausfallend werden konnte…
In Südfrankreich malte Modigliani zahlreiche Porträts, denen er sich nach den Aktenbildern wieder zugewandt hatte. Die fertigen Bilder schickte er zum Verkauf nach Paris. Durch die Vermittlung seines Freundes Zborowski wurden 1919 mehrere Werke Modiglianis auf Ausstellungen in England gezeigt, unter anderem auch in der Londoner Hill Gallery. Der Aufenthalt in Südfrankreich hatte Modiglianis Farbpalette aufgehellt, aber seine Gesundheit hatte sich nicht wesentlich gebessert, im Gegenteil: als er im Mai des folgenden Jahres nach Paris zurückkehrte hatte er nur noch einige Monate zu leben. Er wollte am Pariser Herbstsalon teilnehmen, und der finnische Maler Leopold Survage unterstützte ihn dabei, indem er ihm sein Atelier zur Verfügung stellte. In Paris wurde Jeanne erneut schwanger, und Modigliani verlobte sich mit ihr. Es existiert eine Heiratsverpflichtung vom 7. Juli 1919, in dem er sie als seine zukünftige Ehefrau und die gemeinsame Tochter offiziell als sein Kind anerkennt. Diese Heiratsabsicht konnte er jedoch nicht mehr umsetzen, da er gegen Jahresende schwer an seiner Tuberkulose erkrankte.
Am 24. Januar 1920 verstarb Modigliani in der Charité in Paris. Er war erst 36 Jahre alt. Am folgenden Tag beging seine Verlobte Selbstmord, indem sie sich im Haus ihrer Eltern aus dem fünften Stock stürzte.
Modigliani wurde unter großer Anteilnahme auf dem Friedhof Pére Lachaise beigesetzt. Jeanne Hébuterne wurde später, nachdem ihre Familie den Widerstand dagegen aufgegeben hatte, neben ihm begraben. Ihre Tochter Jeanne wurde von Modiglianis Schwester in Florenz adoptiert.
Nun, liebe Kunstfeunde, die Biografie des Künstlers ist die eine Seite des Mythos Modigliani, sein Werk die andere.
Was ist das Besondere? Hören wir dazu Jean Cocteau: „Seine sensible geschwungene Linie bewegt sich mit der Geschmeidigkeit und Anmut einer SiamKatze.“ Und in der Tat - die Linie ist das Schlüsselelement der Malkunst Modiglianis. Er setzt sie in einer Weise ein, die Volumen, Tiefe und Modellierung der Figuren und Gegenstände vorzutäuschen vermag. Ihm genügt dafür ein feiner Bleistiftstrich. Ein Zeitgenosse berichtet, dass Modigliani an einem einzigen Abend im Restaurant über 60 Porträts zeichnete, die er dann als Geschenke oder im Austausch für ein Glas Absinth verteilte. „Die Mehrzahl der Blätter trug die Aufschrift „dessin á boire“ (Trinkzeichnung), und sie wurden oft von denjenigen achtlos liegen gelassen oder zerknittert, die er gerade gezeichnet hatte.“ Modigliani zeichnet unermüdlich und immer. Was ihn beflügelt, ist die Lust am Gestalten, manchmal auch der Zwang, Schulden bezahlen zu müssen. Stets aber arbeitet er mit der gleichen schöpferischen Inspiration und mit dem gleichen unglaublich ausdrucksvollen Strich. Er verwendet fast nie eine Hell- Dunkel-Modellierung. Seine Linie ist stets fein und sensibel, ungezwungen und ungebrochen, fast musikalisch, mit Lehrstellen und Kreuzungen, aber wie aus einem Guss. Er ist immer auf der Suche nach der perfekten Linie. Mit fließenden Schwüngen fasst er die Form der Figuren und ihre Gesichtszüge knapp, präzise und mit einer Feinheit und Eleganz zusammen, die sich nur durch die Beherrschung der Linie erzielen lassen. Im Gegensatz zu den Kubisten, die alles zerlegen, versucht er, alles in einer Linie zusammenzufassen. Wenn ich Modiglianis Zeichnungen sehe, liebe Kunstfreunde, fällt mir immer das Zitat von Goethe ein: Alles Geniale ist einfach.
Modiglianis Themenwahl ist beschränkt. Ihn interessieren die Menschen, und zwar ausschließlich. Deshalb zeichnet und malt er Porträts und Akte. Landschaften oder Gegenstände interessieren ihn nicht. Über diese Einschränkung hat er einmal recht heftig mit Diego Rivera gestritten, dem berühmten mexikanischen Maler und Ehemann von Frida Kahlo. Als Diego meinte, Landschaften seien alles in der Malerei, schrie Modigliani: „Landschaften gibt es nicht!“ – Was für ihn ja auch zutraf…
Die Freunde, die Verwandten, die Künstler und die einfachen Menschen, die er in Cafés und auf der Straße kennenlernt, bilden für Modigliani eine nie endende und fantastische Galerie von Gesichtern und Ausdrucksmöglichkeiten. Der Maler interessiert sich weder für Geschichte noch für Geschichten, weder für die Landschaft noch für Dinge, sondern einzig und allein für die Menschen. Er ist fasziniert von ihren Gefühlen, ihren Äußerungen, ihren Haltungen, ihrer Ausdrucksvielfalt, ihrer Trauer und ihrer Freude. Er weiß sofort in den Gesichtern seiner Modelle zu lesen und das Wesentliche eines Charakters, eines Ausdrucks, einer Haltung zu erfassen. Er gibt sie wieder mit einem vereinfachenden, knappen Strich, der aber so ausdrucksvoll ist, dass er an die Karikatur grenzt. Er nutzt für die Darstellungen auf einem Bild nur wenige Farben.
Die Liebe zu den Menschen kommt in der großen Anzahl von Portraits einfacher, unbekannter Menschen aus seinem Viertel zum Ausdruck, die Modigliani gebeten hat, für einige Minuten Modell zu stehen. Stets geht es Modigliani dabei um die Synthese und Harmonie der Formen und Farben, auch um Anmut. Durch die Meisterschaft seiner Komposition, eine strenge, stilisierte Konstruktion der Szene und den Einsatz der Farben überwindet er das Zufällige einer Szene, das Flüchtige. Dadurch verleiht er dem Modell dessen Wesen und eine Wahrhaftigkeit, die dauerhaft ist. In seinen Kompositionen verwendet Modigliani häufig einen geometrischen Aufbau; halbkugel förmige Körper, manchmal übertrieben lange Hälse, der Kopf ein geneigtes Oval. Es entspricht seinem Bedürfnis, die Realität in abstrakten, absoluten Formen zu erfassen (denken wir an Cezanne: Alles, was wir sehen, ist auf Kugel, Kegel, Zylinder zurückzuführen) und diese Formen - vor allem wegen ihrer Einfachheit - zu nutzen, um ein Motiv ins Bedeutsame zu heben. So kann die Individualität einer Person zugleich einen Typus veranschaulichen. Konvexe und konkave Linien können - richtig genutzt - einem Gesicht den Ausdruck schmerzhafter Melancholie verleihen. Einem anderen Modell etwas Madonnenhaftes. Einem anderen etwas Herausforderndes oder Erschöpftes. Modigliani will das Gesehene vereinfachen, systematisieren und das herauskristallisieren, was ihn am meisten berührt hat. Seiner Malweise entsprechen melancholisch geneigte Köpfe, oft mit pupillenlosen Augen; abfallende Schultern, biegsame lange Hälse, ovale Gesichter mit ausdrucksstarken Linien bei Nase und Mund. Oft geht der Blick ins Leere und nicht zum Maler, somit auch nicht zum Betrachter; die Menschen auf den Bildern ruhen in sich selbst.
Modigliani sprach mit den Menschen, auch indem er sie malte. Es war seine Art, sich mit Freunden zu unterhalten. Seine Bilder spiegeln die „lautlose Konversation“ wider, wie es Jean Cocteau einmal zusammenfasste. Ohne große Anteilnahme wäre es ihm nie möglich gewesen, die äußeren und inneren Wesenszüge seiner Modelle wiederzugeben.
Ich glaube, Modigliani liebte die Menschen und machte sich ein Bild von ihnen…
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