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Hallo liebe Kunstfreunde,
heute ist ein warmer, sonniger Tag, aber stellen Sie sich folgende Szene vor: Es ist Anfang Februar 2007, ein ungemütlicher und regnerischer Tag. Viele Besucher sind in das Pariser Centre Pompidou gekommen, um sich eine DADA-Retrospektive anzusehen. Ein wesentliches Ausstellungsstück ist das Werk „La Fontaine“ (dt: die Quelle) von Marcel Duchamp. Wir hatten über dieses Ready-Made in der letzten Sendung, in der wir über den Dadaismus sprachen, schon einiges gehört. Sie erinnern sich? Marcel Duchamp hatte 1917 bei einem Sanitärhändler ein Urinal (ein Toilettenbecken, in das man stehend pinkelt,) gekauft, es auf den Namen "La Fontaine" getauft und mit dem Pseudonym "R. Mutt" signiert . Anschließend stellte er das Urinal als Kunstwerk aus. Noch während sich die Besucher des Centre Pompidou um die Ausstellungsstücke scharen, betritt ein 78-jähriger , grauhaarige Mann den Raum; er holt einen Hammer unter seiner Jacke hervor und versucht, das Urinal (eine Replik) zu zertrümmern. Sicherheitsleute stürzen sich schreiend auf ihn, entreißen ihm den Hammer und nehmen ihn fest. Der Kunst - Vandale ist kein Unbekannter: er heißt Pierre Pinoncelli und ist Aktionskünstler. "Ich mache Kunst in Museen gegen Museen", erklärte Pinoncelli seine Tat. "Der Museumsbetrieb hat aus Duchamps Urinal das goldene Kalb der zeitgenössischen Kunst gemacht. Das ist das komplette Gegenteil des einstigen dadaistischen Geistes." Er hatte bereits 1993 bei einer Ausstellung in Nîmes ein Pissoir von Duchamp seinem ursprünglichen Verwendungszweck zugeführt - und in das Becken uriniert. Er wurde damals zu einer Geldstrafe verurteilt. Pinoncelli erklärte seinen erneuten Anschlag auf das Werk als „wortwörtliche Antwort“ auf Duchamps Absicht, das Kunstverständnis zu zerstören. Der Anarcho-Rentner lebt den Dada-Esprit seit über vierzig Jahren: In seinen Aktionen wanderte er schon im Diogenes-Look - d.h.nackt, nur von einer Tonne bedeckt - durch die Straßen. Oder er verkleidete sich als Weihnachtsmann und zerstörte vor weinenden Kindern Spielzeug. Er schnitt sich ein Fingerglied ab - und er stürmte mit einem Gewehr in eine Bank, um letztlich nur einen Euro zu rauben. Ist das DADA? Duchamp hat einmal gesagt: „Die Kritik an der modernen Kunst ist die natürliche Folge der Freiheit, die dem Künstler gegeben ist, um seine individuelle Sicht darzustellen. Ich betrachte das Barometer der Opposition als gesunde Anzeige der Tiefe des individuellen Ausdrucks. Je feindseliger die Kritik, desto mehr sollte der Künstler ermutigt sein.“ Pinoncelli ist sich sicher: Duchamp hätte ihn verstanden. Der Dadaist attackierte den herrschenden Kunstkonsens – und macht Pinoncelli heute nicht dasselbe? Die Protestwerke der Dadaisten gegen die Museumskunst sind mittlerweile selbst zu begehrten Museumsstücken geworden und zu einer Wertanlage der bürgerlichen Kultur. Der Schätzwert des Urinals von Duchamp liegt bei knapp drei Millionen Euro. Das Werk anzugreifen, so die Logik Pinoncellis, setzt also Duchamps Verfahren nur fort.
Die französischen Gerichte hatten wenig Sinn für derartige Spekulation: Sie verurteilten Pinoncelli zu drei Monaten Haft auf Bewährung. Zudem musste er 14.352 Euro für die Reparatur des Kunstwerks zahlen. Trotzdem ein kleiner Sieg für den Alt-Dadaisten, denn eine vom Centre Pompidou geforderte Entschädigung von 200.000 Euro erließ ihm das Gericht. Der Hamburger Medienanwalt Brelle meinte zu dem Fall. "Es wäre Kunst, wenn Pinoncelli eigene Kopien hergestellt und diese dann zerstört hätte. Dann könnte man von einer zustimmungsfreien Benutzung sprechen. Bei der reinen Zerstörung der fremden Replik von Duchamp mag ein Kunstkonzept dahinterstehen, rein juristisch ist das jedoch Sachbeschädigung und ein Eingriff in ein fremdes Eigentums- beziehungsweise Urheberrecht." Pinoncelli ist nicht der erste Vandale mit kreativer Motivation. Die Geschichte der Kunst-Attentäter ist so alt wie die Kunstgeschichte selbst. Herostratos brannte im Jahr 356 vor Christus den Artemis-Tempel von Ephesos nieder, eines der sieben Weltwunder der Antike. Er gestand, er habe das Verbrechen verübt, um berühmt zu werden, da er sein unbeachtetes Leben in der Masse satt habe. Das chinesische Künstlerduo Yuan Cai, 50, und Jian Jun Xi, 44, urinierte im Jahr 2000 in Duchamps "Fountain". Ein Jahr zuvor sorgten sie für einen Skandal, weil sie in Tracey Emins Kunstinstallation "My Bed" eine wilde Kissenschlacht veranstalteten. Und obwohl Emin selbst für ihre provokativen Kunstinszenierungen bekannt ist, reagierte sie ohne Verständnis. "Das ist Terrorismus", kommentiere sie die Aktion, "als würden erfolglose Künstler damit drohen, die Waterloo-Brücke herunter zu springen, wenn man sie nicht ausstellt." - Ach Tracy, geht´s noch? 1997 sprühte der kasachische Künstler Alexander Brener in Amsterdam auf Kasimir Malewitschs "Suprematistisches Bild" ein Dollarzeichen - und wurde zu einer zehnmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Und im Jahr 1994 schüttete der Engländer Mark Bridger schwarze Tinte in das Damien Hirst-Werk "Away From The Flock", einem in Formaldehyd eingelegten Schaf – und nannte seine Schöpfung "Schwarzes Schaf".
Sind diese Kunst-Terroristen also die schwarzen Schafe der Kunstwelt oder doch Co-Autoren eines neuen Werkes? Hatte nicht Duchamp der berühmten Mona Lisa einen Schnurrbart verpasst? Hat er – aber auf einer Kopie des Bildes…
Marcel Duschamp wird am 28. Juli 1887 in Blainville-Crevon im Nord-Westen Frankreichs geboren. Er kommt aus einer wohlhabenden Familie. Sein Vater arbeitet als erfolgreicher Notar in der Stadt. Die Familie pflegt ein ausgeprägtes Interessen für Kunst, Musik, Literatur und Schach. Marcel Duchamp beginnt im Alter von 15 Jahren mit dem Malen. Zwei Jahre später entschließt er sich, Maler zu werden. Duchamp hat 5 Geschwister, wovon drei wie er einen künstlerischen Lebensweg wählen. Sein älterer Bruder Gaston wird Maler und bekannt unter dem Namen Jacques Villon. Raymond Duchamp-Villon wird Bildhauer und seine Schwester Malerin, bekannt unter dem Namen Susanne Crotti.
1904 studiert Marcel Duchamp an der privaten Kunstakademie Julian in Paris. Zusammen mit seinem Bruder Jaques wohnt er in der Rue Caulaincourt. Während seines Studiums setzt er sich mit dem Stil des Impressionismus auseinander. Er kann 1909 einige seiner Bilder im Salon der Unabhängigen ausgestellen. Sein Studium finanziert er, indem er Zeichnungen als Karikaturist für verschiedene Zeitschriften anfertigt. Ab 1911 wendet er sich wie sein Bruder Jaques Villon dem Kubismus zu, und er freundet sich mit Guillaume Apollinaire und Francis Picabia an. Auch Juan Gris gehört zum Kreis. Er lernt einige deutsche Maler kennen und fährt im Juni 1912 auf Vorschlag seines Freundes Max Bergmann nach München, wo er zwei Monate bleibt und sich die Gemälde von Lucas Cranach in der Alten Pinakothek ansieht. Er schätzt dessen Gemälde, und sie haben Einfluss auf seine letzten kubistischen Bilder. Im Herbst desselben Jahres besucht Duchamp zusammen mit seinen Freunden, dem Bildhauer Constantin Brancusi und dem Maler Fernand Léger, die Luftfahrtschau in Paris. Was sie dort zu sehen bekommen, beeindruckt sie sehr, und Duchamp bemerkt zu Brancusi: „Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller? Du etwa?“ Der Anblick der technischen Neuerungen hatte auf die Gruppe eine ähnliche Wirkung wie früher das Staunen der Künstler über die afrikanischen Masken und Skulpturen, die man plötzlich in den neuen Volkskundemuseen zu sehen bekam; wir sprachen in vorherigen Sendungen schon darüber, welchen Einfluss diese Entdeckungen für die Entstehung des Expressionismus und Kubismus hatten… Duchamp war schon länger unzufrieden mit seiner Kunst und ihrer Rolle. „Mich interessieren Ideen, nicht bloß visuelle Ergebnisse.“ Und schon früher hatte er mit seinen Brüdern verabredet,“ etwas Intelligenz in die Malerei zu bringen.“ Die Malerei an sich war für ihn fragwürdig geworden. Führte sie nicht zur Wiederholung? „Renoir hat eine Reihe nackter Frauen gemalt, die sich alle gleichen. Warum? Um die 2000 Museen, die es gibt, damit zu versorgen?“ Er kam zu der Ansicht: „Für mich ist die Malerei veraltet. Sie ist Energieverschwendung, keine gute Masche, nicht praktisch. Wir haben jetzt die Fotografie, das Kino - soviel andere Wege, um das Leben auszudrücken.“ Und im hohen Alter äußerte Duchamp einmal: „Sie kennen genau meine Meinung hinsichtlich der Fotografie. Ich würde es gerne sehen, wenn sie die Leute zur Verachtung der Malerei bringt, bis dann etwas anderes die Fotografie unerträglich macht.“ Die Kunst sollte weg vom Visuellen, sollte Anti-Kunst werden. „ Kunst ist eine Täuschung.“ Und man rief: “Die Kunst ist tot!”
Die drei Freunde zogen Konsequenzen: Brancusi polierte seine Skulpturen immer weiter und näherte sich so Industrieformen; Lèger formulierte eine Theorie, wie die Kunst die Schönheit von Maschinen erreichen könne und malte entsprechende Bilder Duchamp gab die Malerei auf und schuf sein erstes Ready- Made.
Es bestand aus einem hölzernen, weiß lackierten Küchenhocker, auf dessen Sitzfläche eine umgedrehte, schwarz lackierte Vorderradgabel montiert war. „Das Fahrrad-Rad war mein erstes Readymade … Es hatte wenig mit der Idee des Readymades zu tun…Mir gefiel (nur) die Idee, ein Fahrrad-Rad in meinem Atelier zu haben. Ich schaute gerne darauf, genauso wie ich es mag, die tanzenden Flammen in einem Kamin zu betrachten. Es war, als hätte ich einen Kamin in meinem Atelier, die Bewegungen des Rades erinnerten mich an die Bewegungen von Flammen.“
Anfang November 1912 besuchten die amerikanischen Künstler Arthur Davies und Walt Kuhn Pariser Galerien, Ateliers und Privatsammlungen; sie waren auf der Suche nach Werken moderner Kunst für ihre geplante große Ausstellung in New York, der Armory Show. Dort sollten die avantgardistischen Stilströmungen Europas vom Impressionismus bis zur abstrakten Malerei erstmals in einer großen Ausstellung in den Vereinigten Staaten vertreten sein. Der amerikanischen Maler Walter Pach, der seit 1907 in Paris lebte und fließend Französisch und Deutsch sprach, verschaffte den Amerikanern Zugang zu den Ateliers der Maler, führte sie in den Kunstsalon von Gertrude Stein ein und machte sie mit den Duchamp-Brüdern bekannt. Sie wählten mehrere Werke der Brüder für die Ausstellung aus, darunter vier von Marcel Duchamp. Ein Bild mit dem Titel „Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2“ aus dem Jahr 1912 war vom Salon der Unabhängigen in Paris abgelehnt worden. In NewYork hingegen löste es heftige Diskussionen aus und machte Duchamp auf einen Schlag berühmt. Er hatte auf diesem Bild eine unbewegliche Figur zum Laufen gebracht, indem er die einzelnen Schritte die Treppe hinab wie bei einem Film, der aus Einzelbildern besteht, gemalt hatte. Ein unbewegtes Bild war somit in ein scheinbar bewegtes Bild verwandelt worden. Das war einmalig. Duchamp selbst war auf der Messe nicht anwesend, als einziger Künstler der europäischen Avantgarde war Francis Picabia mit seiner Frau Gabrielle vor Ort, der seinen Freunden von dem großen Ereignis berichtete. Die vier ausgestellten Werke von Duchamp wurden verkauft; als letztes fand der Akt, eine Treppe herabsteigend, für 342 Dollar einen Liebhaber. Gegenwärtig ist das Werk im Philadelphia Museum of Art ausgestellt.
Duchamp aber entwickelte seine Ready-Mades weiter. (ready made = schon fertiggestellt) Als „Ready Mades“ kamen schlichte Alltagsgegenstände in die Moderne Kunst. Dadurch, dass der Gegenstand gewählt und anschließend signiert wird, wird er zur Kunst erhoben. Das konnte ein Flaschentrockner sein, ein genau datierter Kamm, eine Reproduktion der Mona Lisa, deren Lächeln mit einem Schnurrbart übermalt wird. Wichtig ist, den Gegenstand zu wählen und ihn aus seinem ursprünglichen Zusammenhang zu reißen und diesen Vorgang durch eine Signatur zu vollziehen. Das bisherige Verständnis von Kunst – ein Werk muss geschaffen werden ! – sollte damit in Frage gestellt werden; der Begriff „Kunst“ sollte erweitert oder ganz abgeschafft werden. Worauf die Künstler des Ready-Made im Speziellen verweisen wollten, war ihr Standpunkt, dass Kunst nicht der eigentliche Gegenstand ist, sondern die „Wahl“. Die Wahl, die jeder Betrachter trifft, wenn er entscheidet, was für ihn konkret ein Kunstgegenstand ist und was nicht.
So kaufte Duchamp in einem Sanitärgeschäft ein Urinal, ein Pinkelbecken, signierte es mit “R. Mutt“, und gab ihm den Titel „Fontaine“ . Duchamp wählte das englische Wort für „Fontäne“ anstelle von „Urinal“ oder „Urinoir“, um das Pissoir durch Umbenennung und Verfremdung zum Kunstgegenstand zu erheben. Das „R.“ wurde in der zweiten Ausgabe der Dada-Zeitschrift The Blind Man später als „Richard Mutt“ identifiziert, wobei im Französischen “richard “einen stinkreichen Menschen bezeichnet und in Silben zerteilt, als „rich“ und „art“ gelesen werden kann, also „reiche Kunst“. Die rätselhafte Wortspielerei und die Mehrdeutigkeit der Signatur hatte jedenfalls für den zweisprachigen Duchamp eine sicherlich nicht zufällige Bedeutung.
Duchamp verließ Paris im Jahr 1915 und zog nach New York − er traf am 15. Juni des Jahres mit dem Schiff dort ein – und wohnte in den ersten Tagen bei Walter Pach. In New York traf Duchamp seinen Freund Francis Picabia wieder, der wie er und weitere Künstler aufgrund des Ersten Weltkriegs nach Amerika ausgewandert waren.
1916 gründete sich die Society of Independent Artists ; sie gab u.a. 1917 eine dadaistische Publikation heraus, The blind Man. Die Society sollte eine amerikanische Entsprechung zur französischen Societé des Artistes Independants sein; geplante Ausstellungen sollten weder einer Zensur noch einer Vorauswahl durch eine Jury oder der Prämierung durch eine solche unterliegen. Für die symbolische Aufnahmegebühr von nur einem Dollar wurde Marcel Duchamp im Dezember 1916 zum einzigen europäischen Gründungsmitglied der neuen New Yorker Künstlervereinigung. Ein Mitglied des Direktoriums war der mit Duchamp befreundete Kunstsammler Walter Conrad Arensberg, der zugleich als Geschäftsführer fungierte. Arensberg und Duchamp kannten sich bereits seit der Armory Show von 1913, bei der Duchamp mit der Ausstellung seines als skandalös empfundenen Gemäldes Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 schlagartig in den Vereinigten Staaten bekannt geworden war. Für den Beitrag von sechs Dollar durften maximal zwei Werke in der Jahresausstellung der Society gezeigt werden. Zur ersten und größten Ausstellung der Vereinigung, der Big Show im New Yorker Grand Central Palace im April 1917, reichte Duchamp das Urinal unter dem Pseudonym R. Mutt ein, um seine Urheberschaft an dem Werk zu verschleiern. Mit dem provokanten Akt widerlegte der Künstler die im Vorfeld proklamierte „freie unzensierte“ Teilnahme: Das Urinal löste eine hitzige Diskussion bei den Society-Mitgliedern aus, von denen, mit Ausnahme des in den Plan eingeweihten Walter Arensberg, niemand etwas über den obskuren Mr. Mutt wusste. Nachdem sich die Society darauf geeinigt hatte, dass dieser maschinengefertigte Alltagsgegenstand keinesfalls Kunst sei, wurde Fountain von der Ausstellung ausgeschlossen. Duchamp und Arensberg zogen ihre Konsequenz und traten unter Protest aus der Society aus, ohne jedoch ihre Täterschaft zu offenbaren. Trotz der beachtlichen Teilnehmerzahl der Big Show – es wurden rund 2.500 Werke von 1.200 Künstlern gezeigt, darunter Constantin Brancusi oder Pablo Picasso– blieb die Ausstellung nun vor allem wegen des einzigen nicht gezeigten Kunstobjekts im Gespräch: Marcel Duchamps Fountain. Nur eine Woche später stellte Alfred Stieglitz, der den Eklat interessiert verfolgt hatte, Fountain in seiner Galerie aus, wo er das Objekt als Ausstellungsstück fotografierte. Die New Yorker Dadaisten begannen bald darauf eine Kontroverse über den Fall Richard Mutt und sein vermeintliches Kunstobjekt zu führen, zumal Fountain in der zweiten (und letzten) Ausgabe der Dada-Zeitschrift The Blind Man mit der Fotografie von Stieglitz in dessen Galerie als Kunstobjekt präsentiert worden war – zusammen mit einem begleitenden Text von Arensberg und der Mitherausgeberin Beatrice Wood. Alle beide konstatierten, dass der Künstler einzig und allein durch seine Auswahl einen beliebigen Gegenstand in den Status eines Kunstwerkes erheben kann, wenn der „gefundene (Kunst-)gegenstand“ (Objet trouvé) einem Konzept folgt. Der Streit, der auch durch Duchamps Freundeskreis als Skandal hochstilisiert wurde, ging als „Richard Mutt Case“ in die Kunstgeschichte ein.
Ab 1919, wieder zurück in Paris, lernte Duchamp André Breton, Louis Aragon und andere Dichter aus dem Kreis der Dadaisten und späteren Surrealisten, kennen. Er schuf weitere Ready-Mades, nannte sich zeitweise Rrose Sélavy (Cést la vie !) und entwickelte u.a. Rotorreliefs – optische Scheiben mit Spiralwirkung, angetrieben von Motoren. (Tinguely lässt grüßen).
1921 schuf Duchamp ein Parfumflakon : Belle Haleine – Eau de Voilette (Schöner Atem – Schleierwasser) . Über den Schriftzug „Belle Haleine“ klebte er in das Medaillon auf dem Flakon die Verkleinerung von Man Rays Fotografie Rrose Sélavy, und so signierte der Künstler auch die bauchige Originalverpackung. Dieses Ready-made galt lange Zeit als verschollen, tauchte 2009 im Nachlass von Yves Saint Laurent wieder auf und wurde für 7,9 Millionen Euro bei Christie´s versteigert. Nebenbei: Zu seinen ausgestellten Werken gehörte auch Rrose Sélavy, eine lebensgrosse weibliche Schaufensterpuppe, die die Kleider Duchamps trug.
Im Jahr 1923 trifft Duchamp die amerikanische Witwe Mary Reynolds in Paris wieder, die er bereits aus New York kannte; er führte mit ihr eine langjährige Beziehung bis zu ihrem Tod im Jahr 1950. Geheiratet hat er sie nicht, sondern er heirate 1927 lieber Lydie Sarazin-Levassor, von der er sich aber nur sechs Monate später wieder scheiden ließ. Es wurde kolportiert, dass Duchamp die Ehe nur aus finanziellen Gründen geschlossen hätte, da Lydie die Enkelin des reichen Automobilfabrikanten Levassor war. Wenn´s stimmt, sagt das einiges über den Menschen Duchamp aus... 1933 entdeckt er zusammen mit Mary Reynolds den spanischen Urlaubsort Cadaqués. Dort treffen sie Salvador Dalí und seine Frau Gala sowie Man Ray. Cadaqués gehörte seitdem zu seinen bevorzugten Urlaubsorten, er besuchte ihn elfmal.
Liebe Kunstfreunde, ich möchte Sie nicht mit einer Aufzählung der Ausstellungen und einzelner Werke langweilen, auch wenn eine Teilnahme im New Yorker Museum of Modern Art oder die Beratung von Peggy Guggenheim erwähnenswert sind. Duchamp war Dadaist, ein Gegner des Kunstbetriebs. „ Meine Hauptbeschäftigung“, erklärt er, „ist das Atmen. Bevorzugte Nebenbeschäftigung das Schachspiel.” Und das beherrscht er ziemlich gut, schließlich hat er diese Leidenschaft von Kindheit an gepflegt. Er schreibt wöchentliche eine Kolumne über Schach, nimmt an Turnieren teil, verfasst ein Buch darüber und entwirft zusätzliche Spielfiguren.
1942 musste Duchamp aufgrund des Zweiten Weltkriegs Frankreich verlassen und emigrierte nach New York. Mary Reynolds hatte es vorgezogen, in Paris zu bleiben, wo sie sich der Résistance anschloss. Was sie dort genau tat und welche Auseinandersetzungen es zwischen ihr und Duchamp gab, weiß ich nicht: Aber die Frage Flucht oder Widerstand war sicherlich ein Thema. Immerhin war sie die Amerikanerin und er der Franzose. Bald wurde sie von der Gestapo verfolgt, aber ihr gelang eine abenteuerlichen Flucht über die Pyrenäen. Im April 1943 traf sie in New York ein. Kurz vor Kriegsende kehrte sie dann allein nach Paris zurück. Warum allein? Auch so eine Frage...
1942 organisierte Duchamp gemeinsam André Breton und anderen eine Surrealistenausstellung. Er stattete die Ausstellungsräume mit einem riesigen Spinnennetz aus Bindfäden aus, die auch die ausgestellten Werke nicht verschonten, sodass einige von ihnen kaum zu erkennen waren.
Am 30. September 1950 verstarb Mary Reynolds, Duchamps langjährige Lebensgefährtin, in Paris. Duchamp war aus New York angereist, um die letzten Lebenstage mit ihr verbringen zu können und übernahm nach ihrem Tod die Verantwortung für die Haushaltsauflösung. Ihren künstlerischen Nachlass und die Sammlung zahlreicher dadaistischer und surrealistischer Dokumente schickte er an Reynolds Bruder, der es dem Art Institute of Chicago stiften sollte. WERBUNG ??
1954 heiratete Duchamp ein weiteres Mal: Seine zweite Ehefrau Alexina, genannt Teeny, war vorher mit Pierre Matisse, dem bekannten Galeristen in New York und Sohn des Malers Henri Matisse, verheiratet gewesen. Sie waren sich bereits früher begegnet, kannten sich aber nur flüchtig. Duchamp hatte sie 1951 auf Einladung von Max Ernst und dessen Frau bei einem Besuch in Alexinas Haus in New Jersey, wiedergesehen, und sie verliebten sich ineinander. Am 30. Dezember 1955 wurde er US-amerikanischer Staatsbürger. Acht Jahre später gab es eine erst große Duchamp-Retrospektive in Pasadena, zu der auch Andy Warhol anreiste. Er konnte dort u.a. „Das große Glas“ sehen. Das Große Glas besteht aus einer bemalten, senkrecht stehenden zweiteiligen großen Glasplatte. Die horizontale Fuge in der Mitte bildet den Horizont. Die Braut im oberen Teil stellt sich als eine Art Maschine dar, die keine menschlichen Züge trägt – eine Weiterentwicklung von Bild Akt, eine Treppe hinuntersteigend. Rechts von ihr befindet sich die Inschrift oder Milchstrasse. Im unteren Teil des Glases befinden sich links die Junggesellen, im Einzelnen sind dies Priester, Leichenträger, Stationsvorsteher, Schutzmann, Lakai, Kürassier. Sie setzen durch ihr Begehren nach der Braut die Schokoladenreibe rechts daneben in Gang, ein Motiv, das Duchamp seit jeher fasziniert hatte. Das Werk funktioniert wie eine Versuchsanordnung, die Junggesellen begehren die Braut, ohne ihrer habhaft zu werden. Das Große Glas sollte eine Darstellung und Idee zugleich sein. – Anlässlich der Retrospektive hatte sich Duchamp vor diesem Werk niedergelassen und mit einer nackten Frau, der 20jährigen Studentin Eva Babitz, Schach gespielt. Er ließ die Szene fotografieren, um damit das Ende seiner bildnerischen Tätigkeit zu demonstrieren. Er wollte in Zukunft nur noch Schach spielen und mit Kunst handeln.
1964 nahm Duchamp an der Documenta in Kassel teil, danach folgte eine Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft in Hannover.
In der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 1968 verstarb Duchamp nach einem fröhlichen Abend mit seiner Frau Teeny und den Freunden Robert und Nina Lebel sowie Man Ray und Frau Juliet in seiner Wohnung in Neuilly, im Appartement, das er von seiner Schwester Suzanne geerbt hatte. Teeny fand ihren Mann kurz vor ein Uhr morgens tot im Badezimmer liegend. Duchamp hatte in seinem Testament verfügt, es solle keine Trauerfeier geben. Seine Asche wurde auf dem Cimetière Monumental de Rouen neben den Familiengräbern beigesetzt. Den Text für seinen Grabstein hatte er selbst entworfen: „D’ailleurs c’est toujours les autres qui meurent“ („Im übrigen sind es immer die anderen, die sterben“)
Niemand hat mehr Kunst-Ideen in die Welt gesetzt als Duchamp. Alles, was es heute in der modernen Kunst gibt, hat er angestoßen. Seine Protestwerke gegen die Museumskunst sind mittlerweile zu begehrten Museumsstücken geworden. Das war so sicher nicht gewollt. „Meine Ready-Mades“ konstatiert er einmal mißbilligend, „waren als Herausforderung gedacht – jetzt findet man sie schön.“ Aber so ist die Kunstgeschichte nun mal: Die Revolution frisst ihre Kinder.
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